Der Fluch der Top-Lage

Oder wie die Erich Kästner-Schule vor die Wand gefahren wird – Ein Kommentar

Wissen Sie was zählt? „Lage, Lage, Lage!“ Das ist zumindest das Mantra jedes pfiffigen Immobilienmaklers. Denn „Lage, Lage, Lage“ weckt Sehnsüchte und Begehrlichkeiten. Vor allem die Lage am Wasser bzw. am Hafen. Nicht umsonst singen wir seit gut 100 Jahren „Warum ist es am Rhein so schön“.

Gefühlt genauso lange plant die Stadt an einer Erneuerung der maroden Erich Kästner-Schule (EKS) herum, die aus den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts stammt und seither ungestört vor sich hinbröselt, -rostet, -schimmelt. Wie hoch die Qualität von Bausubstanz aus den 70ern ist, hatte ja jüngst auch die Carolabrücke in Dresden gezeigt, die – anders als die EKS – allerdings inzwischen nicht mehr steht.

In den vergangenen zehn Jahren präsentierte die Stadt der Schule darum auch diverse „Lösungen“ für den Schulneubau und verweigerte ihr mit Verweis darauf zuletzt selbst die Kosten für einen Eimer Farbe, um die Klassenräume anzustreichen. Denn, warum hier noch investieren, wenn es jetzt bald schon losgeht mit dem Schulneubau? Nur, es ging nie los.

Stattdessen treibt die Phantasie von Politik und Planern immer neue Blüten. Deren Namen lauteten im Jahr 2014 noch wenig poetisch „Campus-Lösung“ und 2019 „Bauen im Trinkwasserschutzgebiet“. Die „Campus-Lösung“ sollte eine Zusammenlegung mit der ebenfalls sanierungs- und vor allem erweiterungsbedürftigen Hafenschule ermöglichen. Idee dahinter: Kosten senken, denn mit dem freiwerdenden Areal der Hafenschule mitten im Schiersteiner Ortskern hätte sich doch gut Geld machen lassen. „Bauen im Trinkwasserschutzgebiet“ hätte ähnliche Vorteile gebracht: Denn dadurch wäre das jetzige Areal der Erich Kästner-Schule frei geworden. Toll, wieder Geld verdienen, und nicht nur für eine Schulsanierung ausgeben!

Aus beidem wurde nichts. Weil für die eine Lösung das Areal zu klein war; die andere Lösung scheiterte daran, dass in Deutschland in Trinkwasserschutzgebieten nicht gebaut werden darf (erstaunlich!). Um das festzustellen, brauchte die Stadt im ersten Fall fünf Jahre, im zweiten Fall sickerte die Erkenntnis (bzw. die klare erwartbare Absage des Regierungspräsidiums Darmstadt) immerhin schon nach ungefähr einem Jahr durch. Dann war erstmal wieder ratlose Funkstille.

Doch 2021 kam der unerwartete Durchbruch: Die EKS sollte nun doch allein auf ihrem Grundstück bleiben dürfen (und die Hafenschule auch, aber um die geht es hier erstmal nicht). Diesmal also keine Verwertungsphantasien für ein Grundstück in Top-Lage – nur schnöder Schulneubau. Es wurde also wieder geplant und gerechnet. Im September 2022 stimmte dann das Wiesbadener Stadtparlament einer Sitzungsvorlage mit einem Investitionsvolumen von 100 Mio. Euro für die Sanierung und den Neubau der EKS zu.

Ende gut, alles gut, dachten die unverbesserlichen Optimisten. Doch die Skeptiker („Ich glaub’s erst, wenn die Schule steht!“) sollten Recht behalten.

2025 gibt es eine weitere klangvolle, verheißungsvolle, ja geradezu majestätische neue Sau – Pardon – neue Idee, die zur Schulsanierung durchs Dorf getrieben wird: diesmal heißt sie „Rheingau-Palais“. Und wieder steckt ein altbekannter Gedanke dahinter: Kosten senken! Denn das Palais steht ja schon da. Es müsste nur noch von der Wiesbadener Stadtentwicklungsgesellschaft SEG – die dazu augenblicklich bereit ist – gekauft werden. Platz für die Schule ist grundsätzlich da, hat die SEG in einer ersten Bestandsaufnahme schon festgestellt. Jetzt noch ein bisschen umbauen, Farbe an die Wände, Tische und Stühle rein und – tadaa, fertig ist die Schule. Oder so ähnlich.

Die SEG wäre damit der Retter in der Not – vor allem für den Schul- und Finanzdezernenten Hendrik Schmehl, der inzwischen auch öffentlich mit der Info wurde, dass die Erneuerung der EKS wohl doch eher 150 Mio. Euro kosten werde. Schmehl hat zwar erst 2023 das Projekt von seinem Vorgänger Axel Imholz geerbt, ein überraschter Neuling ist er auf dem Gebiet aber nicht. Hatte er doch schon als vehementer Verfechter und damaliger stellvertretender Vorsitzender des Schulausschusses gegen alle Warnsignale die einstige „Campus Lösung“ verteidigt. Die scheiterte ja bekanntlich.

Aber jetzt klappt’s bestimmt! Schülerinnen und Schüler sollen demnächst in einem Palais residieren dürfen. Ein unschlagbares Angebot von SEG und Schuldezernent.

Warum nur findet das offenbar die Schulgemeinschaft der Erich Kästner-Schule und auch der Schiersteiner Ortsbeirat gar nicht so toll?

  • Vielleicht, weil ein Neubau der Schule an Ort und Stelle gerade erst in greifbarer Nähe war? Einer Haupt- und Realschule, die endlich nicht mehr mit bröckelndem Putz, unbenutzbaren Räumen, maroden Leitungen und Platzmangel zu kämpfen gehabt hätte.
  • Weil mit dem Rheingau-Palais alle bisherigen Planungen an pädagogisch sinnvollen und zeitgemäßen Raumkonzepten (wiedermal) für die Katz gewesen wären.
  • Weil ein einst für die Sektkellerei Söhnlein erbautes, als Kulturdenkmal in der Denkmalschutzliste der Stadt Wiesbaden eingetragenes Gebäude (eine ehemalige Kelterei), das im Ensemble mit dem Söhnleinpalais und einer dazugehörigen Parkanlage mit altem Baumbestand keinen Platz für zusätzliche Neubauten bietet, vielleicht doch nicht so einfach und schnell in eine pädagogisch zeitgemäße und barrierefreie Schule verwandelt werden kann?
  • Weil in Schierstein die Vermutung nicht ganz unbegründet scheint, dass das seit 2023 zum Verkauf stehende Gebäude vielleicht doch nicht eine so brillante, kurzfristige und billige Lösung – zumindest nicht für eine Haupt- und Realschule mit 650 Schülerinnen und Schülern – sein könnte.
  • Weil das Vertrauen in die Planungen der Stadt dermaßen auf dem Nullpunkt ist, dass im Ortsteil mit weiteren quälenden Jahren der Planung und des Stillstands gerechnet werden muss?
  • Weil der EKS inzwischen die Lehrkräfte davonlaufen könnten bzw. neue nicht mehr mit dem Argument „Hier-ensteht-bald-eine-tolle-Schule“ geködert werden.
  • Weil es ja eventuell auch sein könnte, dass mal wieder Dreh- und Angelpunkt für den ein oder anderen Akteur weniger das Wohl der Schulgemeinschaft, als ein ach so schönes Grundstück direkt am Schiersteiner Hafen sein könnte?

Aber das sind bestimmt nur haltlose Gedankenspiele. Vor allem: Wen interessiert schon die „Lage, Lage, Lage“?

Christina Kahlen-Pappas