KOMMENTAR zum Initiativrecht in der Wiesbadener Bürgerbeteiligung

Ausschnitt aus der Webseite der Stadt dein.wiesbaden.de

Ganze drei Jahre (von 2016 bis 2019) hat Wiesbaden Bürgerbeteiligung erprobt. Zur „Schluss-Evaluierung“ – also Bewertung – dieser Erprobungsphase legt die Stadt nun einen Bericht vor in der Stadtverordnetenversammlung am 31. Oktober 2019. Der Bericht liest sich grundsätzlich positiv, doch beim sogenannten „Initiativrecht“ – der Möglichkeit, dass Bürger selbst ein Thema zur Bürgerbeteiligung anregen bzw. initiieren können – da ist der Wurm drin. Will die Stadt überhaupt echte Bürgerbeteiligung?

Das Positive vorweg: Super, dass die Stadt Wiesbaden Leitlinien zur Bürgerbeteiligung hat und noch besser, dass Bürger eigene Themen einbringen können. Das gibt es in vielen anderen Städten so (noch) nicht. Doch so einfach, wie sich die Bürgerbeteiligung anhört, ist sie leider nicht in Wiesbaden.

Ausschnitt aus der Webseite der Stadt dein.wiesbaden.de mit Slogan

In den vergangenen drei Jahren haben Wiesbadens Bürger genau zehn Initiativ-Anträge (siehe Seite 19 Evaluierungsbericht) bzw. Vorschläge zu Bürgerbeteiligungen bei der eigens dafür eingerichteten Stabsstelle für Bürgerbeteiligung eingebracht. Sieben dieser „Initiativ-Anträge“ hat die Stadt abgelehnt, ohne dass sich jemals ein Ausschuss oder gar die Stadtverordnetenversammlung mit ihnen befassen musste. Aus ihnen wird nie ein Bürgerbeteiligungsprozess entstehen. Zwei Anträge, die bereits im Februar 2018 eingereicht wurden, sind 20 Monate später – Ende 2019 – noch immer „in Prüfung“. 

Auf der Webseite der Stadt dein.wiesbaden.de sind acht der zehn Initiativ-Anträge einsehbar.

Nur ein einziger dieser zehn Anträge auf Bürgerbeteiligung hat es in drei Jahren überhaupt auf die Tagesordnung der Stadtverordnetenversammlung geschafft. Es ist der Antrag auf Bürgerbeteiligung zu einem Masterplan für Schierstein.

Von außen betrachtet, sollte man meinen, das ist nicht viel; zehn Anträge in drei Jahren und nur einer passiert die Stadtverordnetenversammlung. Für Wiesbaden scheint das aber schon ZU viel zu sein. Denn die Stadt fühlt sich offensichtlich überfordert.

So schreibt sie in ihrer „Schluss-Evaluierung“ zu den Wiesbadener Leitlinien für Bürgerbeteiligung auf Seite 20: „Die Erfahrungen der Stabsstelle mit dem ersten erfolgreichen Antrag haben gezeigt, welch hoher Abstimmungsbedarf notwendig ist und wie viel personelle und zeitliche Kapazitäten gebunden werden […]. Eine große Fülle an formal zulässigen Anträgen wird weder von der Stabsstelle noch von den Fachämtern zu bewältigen sein. Dies und die Verhinderung einer starken Dominanz von Einzelinteressen sprechen dafür, ein Quorum für Initiativanträge bei der weiteren Umsetzung der Leitlinien nochmals zu prüfen.“ 

Der Evaluierungsbericht rät also dazu, eine Hürde für die Bürger einzubauen, bevor sie überhaupt einen Antrag auf Bürgerbeteiligung stellen können: Es soll ein „Quorum“ erfüllt werden. 

Ein Quorum – das bedeutet dann wohl, dass Bürger demnächst Unterstützer bzw. Unterschriften für einen Initiativantrag sammeln sollen. Was will die Stadt mit diesem Quorum erreichen? Dass die Stabsstelle statt EINEM Antrag von Bürgern künftig KEINEN Antrag von Bürgern für die Bürgerbeteiligung mehr vorbereiten muss?

Aus Sicht der Stadt mag das ein erstrebenswertes Ziel sein. Doch diese Taktik wird nicht aufgehen, denn die Hürde “Quorum/Unterschriftensammlung” hätte höchstwahrscheinlich jeder der zehn Initiativ-Anträge locker genommen.

Übergabe von 3.628 Unterschriften zur Petition zum Erhalt der Hafenschule am 21. Juni 2018

Den Antrag zum Masterplan Schierstein hatten innerhalb von einem Tag 36 wahlberechtigte Schiersteiner unterschrieben und dem Ortsbeirat überreicht. Zu einem Teilaspekt dieses Antrags auf Bürgerbeteiligung – den Schulneubauten in Schierstein – hatten die Initiatoren wenige Monate zuvor eine Petition gestartet, die von 3.628 Unterstützenden, davon 2.861 Wiesbadenern, unterzeichnet worden war. Ein anderer Aspekt, die Bebauung des Osthafens, war bereits 2010 von großem Interesse. Gegen die damaligen, nun wieder aktuellen, Pläne wurden damals 3.550 Unterschriften im ganzen Stadtgebiet gesammelt, von denen nach Aussage der Organisatoren ca. 2.700 von wahlberechtigten Bürgern aus Schierstein stammten (siehe Pressemitteilung der CDU Schierstein vom 30.1.2011).

Pressemitteilung der CDU Schierstein vom 30.1.2011

Egal ob Bürger nun für oder gegen das Anliegen der Petition zur Schule sind und egal, ob sie die Unterschriftensammlung gegen die Bebauung am Osthafen unterstützen oder nicht, die enorme Beteiligung an diesen Aktionen zeigt doch, dass die “Masterplan-Themen”, die auch die Auswirkungen von Schulneubau und Osthafenbebauung aufgreifen, keineswegs Einzelinteressen verfolgen. Ein Quorum hätte die Stadt also nicht vor dem Masterplan Schierstein “schützen” können.

Andere Hürden im Verfahren sind dagegen deutlich schwerer zu überspringen: Welcher Bürger kennt sich schon mit Antragstellung und formal korrekter Antragsbegründung aus? Dass die Stabsstelle Bürgerbeteiligung bisher keine „Fülle an formal zulässigen Anträgen“ bearbeiten musste, liegt sicher nicht an der Ideenlosigkeit und der Zufriedenheit der Wiesbadener Bürger in Bezug auf die Stadtpolitik.

Die Wiesbadener können Unterschriften sammeln und Unterstützer für ihre Anliegen gewinnen, das haben sie in den vergangenen Jahren mehrfach bewiesen – auch wenn die Stadt das gern ignoriert.

Und das scheint dann auch das eigentliche Problem zu sein: Will die Stadt überhaupt echte Bürgerbeteiligung? Will sie den Bürgern wirklich die Möglichkeit einräumen, offiziell gehört zu werden?

Wenn Wiesbaden wirklich eine offene bürgernahe Kultur leben möchte, warum zieht die Stadt aus den mageren zehn Initiativanträgen nicht die Lehre, dass die Bürger stärker in dieser Beteiligungsform unterstützt werden müssen?

Stattdessen verliert der Evaluierungsbericht kein einziges Wort darüber, ob die Verwaltungsabläufe bei Initiativ-Anträgen vereinfacht werden könnten. Dann könnten vielleicht mehr Bürger Vorschläge einbringen und die bisher leeren Worthülsen des Slogans “Deine Stadt. Deine Meinung. Dein Wiesbaden.” mit Leben füllen.

Doch diesen Blick auf sich selbst lässt die Stadt offenbar komplett aus. Sie vermittelt den engagierten Bürgern anscheinend lieber, dass sie Schuld tragen an dem unglaublichen Arbeitsaufwand und den Kosten der Bürgerbeteiligung. Denn die Bürger sind es ja, die sich erdreisten überhaupt von ihrem Recht auf Bürgerbeteiligung Gebrauch zu machen. 

Die Stabsstelle für Bürgerbeteiligung wird damit vollkommen ad absurdum geführt. Sie sollte umbenannt werden in „Stabsstelle zur Verhinderung von Bürgerbeteiligung“.

27. Oktober 2019, Christina Kahlen-Pappas