Fast genau vor einem Jahr, am Freitag Nachmittag, den 14. August 2020, hatte sich über Schierstein nach langer Trockenheit ein Wolkenbruch entladen. Starkregen sorgte dafür, dass innerhalb von weniger als einer Stunde die Bahnunterführung an der Saarstraße komplett unter Wasser stand. Ein PKW war in den Wassermassen stecken geblieben, die Saarstraße war unpassierbar:
Im Schiersteiner Lindenviertel hatte sich der Lindenbach von einem fast ausgetrocknetem Rinnsal in einen reißenden Bach verwandelt, der teils über seine Ufer trat – auch dafür hatte es gerade mal eine Stunde Starkregen gebraucht:
“Normal”: Der Lindenbach am 11. August 2021
Nach fast 28 Litern Niederschlag je Quadratmeter: Der Lindenbach am 14. August 2020
Am Hafen schoss der Lindenbach am 14. August 2020 mit Druck ins Hafenbecken. Video:
Die Wetterstation in Biebrich verbucht den 14. August 2020 als den regenreichsten Tag des Jahres mit 27,8 Litern Niederschlag je Quadratmeter.
Kaum ein halbes Jahr später – Anfang Februar 2021 – wiederholte sich das Szenario mit knapp 24 Litern Niederschlag je Quadratmeter.
Zum Vergleich: In den von der Flutkatastrophe betroffenen Gebieten in NRW und Rheinland-Pfalz wurden im Juli 2021 weitflächig mehr als 100 Liter je Quadratmeter Niederschlag in 72 Stunden registriert (siehe Bericht des DWD: https://www.dwd.de/DE/leistungen/besondereereignisse/niederschlag/20210721_bericht_starkniederschlaege_tief_bernd.pdf?__blob=publicationFile&v=6 ). Vereinzelt wurden sogar mehr als 240 Liter je Quadratmeter Niederschlag in nur 22 Stunden gemessen.
Was passiert, wenn solche Wassermassen über Schierstein abregnen?
Darauf gibt es offenbar noch keine konkreten Antworten. Wohl aber auf die Frage, wie gefährdet Schierstein ist und wo überall der Lindenbach sich Wege suchen kann.
Die Starkregen-Hinweiskarte für Hessen zeigt ein hohes Starkregen-Gefahrenpotenzial für Schierstein. Sie basiert auf Beobachtungen des Niederschlags, der Topographie und des Versiegelungsgrads. Zusätzlich ist die Vulnerabilität (kritische Infrastrukturen, Bevölkerungsdichte und Erosionsgefahr) enthalten:
Die kommunalen Fließpfadkarten zeigen die potentiellen Fließpfade nach einem Starkregenereignis:
Auf dieser Basis kann eine Kommune das Überflutungsrisiko analysieren.
Diese Fließpfade werden in einem Modell aufgrund relativ feiner Geländestruktur (1 m x 1 m) berechnet. Vor allem Hangneigungen spielen hier eine Rolle. Das hier abfließende Regenwasser kann nach einem Starkregenereignis einen kleinen Bach schnell anschwellen lassen. (Weitere Infos: https://www.hlnug.de/themen/klimawandel-und-anpassung/projekte/klimprax-projekte/klimprax-starkregen/fliesspfadkarten)
Die derzeit verfügbaren Fließpfadkarten für Wiesbaden sind hier zu finden:
https://www.wiesbaden.de/leben-in-wiesbaden/umwelt/wasser/kommunale-fliesspfadkarten.php
Sie zeigen die potentiellen Fließpfade mit einem seitlichen Puffer von jeweils 10 m. Sie zeigen die Gefährdungsklassen der Gebäude und Landwirtschaftsflächen.
Die Realität kann immer von einer Modellsimulation abweichen.
Dass der Lindenbach schon nach einem kurzen Starkregen zum reißenden (wenn auch schmalen) Fluss werden kann, konnten wir in Schierstein bereits erleben. Was passiert, wenn es – wie im Aartal – 72 Stunden stark regnet?
Und was passiert, wenn in Schierstein noch zusätzlich das Hochwasser des Rheins hinzukommt und der Hafen kein Lindenbachwasser mehr aufnehmen kann? Denn der Lindenbach fließt in Richtung der Überschwemmungsgebiete des Rheins am Hafen:
Eine spezielle Gefahrenanalyse für den Lindenbach bei Starkregen hat darum höchste Priorität.
Wie wirken sich unterschiedliche Regenmengen pro Quadratmeter aus? Wann ist wer, wie stark gefährdet? Welche Auswirkungen hätte eine Überschwemmung auf evtl. gelagerte (Gefahr-)Stoffe von Firmen wie A+E Fischer oder Federal Mogul, die laut Fließpfadkarte innerhalb des Gefährdungsbereichs liegen?
Wie und wohin erfolgt eine Evakuierung der Bevölkerung und insbesondere der Bewohner*innen des im Gefährdungsbereich liegenden Jan-Niemöller-Hauses?
Neben Experten sollten auch die Anwohner*innen und betroffenen Unternehmen und Einrichtungen in die Erarbeitung von Lösungsansätzen einbezogen werden. Die Renaturierung des Lindenbaches sollte erneut untersucht werden mit besonderem Fokus auf ihren eventuellen Mehrwert für eine Prävention von Schäden durch Starkregen und Hochwasser.
Katja Hammer, Christina Kahlen-Pappas und Claudia Wagner